Verdorben!
Der Titel von Ellen G.s Roman ist Programm. Sie beschreibt auch in ihrem Folgeroman zu „Schaduwspel“ (siehe unseren Beitrag) eine besondere Seite menschlicher Abgründe, die man nur zu gerne als fantastisch abtun möchte. Welchen Stellenwert ein Menschenleben im Ernstfall für den einzelnen haben kann, wird uns allerdings tagtäglich vor Augen geführt.
Die niederländische Autorin mit bereits vier Kriminalgeschichten im Gepäck hält auch in „Verdorven“ an ihrem ehemaligen Kriminalinspektor und Lebemann Wolfgang fest. Nach einer kurzen Intermezzo in Galizien kommt er wieder in Berlin, seiner Heimatstadt an, und soll sich sogleich um die Aufklärung einer Serie von Tötungsdelikten kümmern. Unterstützung bekommt er von seinem ehemaligen Kollegen Claus und der ehrgeizigen Polizeianwärterin Esra.
Im Laufe der Ermittlungen machen die drei die Bekanntschaft mit einer Nobelprostituierten Alicea, einem Priester, der ein Obdachlosenheim leitet und mit mehreren Obdachlosen. Besonders einer, Jan, zieht sich hartnäckig als roter Faden durch den Fall. Auf der Suche nach ihm wandert Wolfgang durch Lissabon und Berlin und schwebt mehrfach selbst in Lebensgefahr.
Die Frauen sind in Ellen G.s Büchern, ganz anders als in Kriminalgeschichten gewohnt, keine blosse Dekoration oder schwache und leichte Opfer. Im Gegenteil wissen sie sich, kräftig zu wehren, beweisen Charakter, wenn manchmal auch von gefährlicher Sturheit oder Neugierde getrieben und können sich nach Bedarf ganz schön manipulativ und unbarmherzig zeigen. Wie man es bei Ellen G. gewohnt ist, sind auch hier die neu eingeführten Figuren sensibel und tiefgründig gezeichnet, man hat schnell das Gefühl, dass man alle irgendwie schon seit Längerem kennt, man kann sich ein bisschen mit jedem identifizieren.
Berlin kommt im Roman gut zur Geltung, wenn auch in diesem Fall seine dunkle Seite dominiert. Das Thema Obdachlose steht im Zentrum der Geschichte. Es handelt sich um ein unangenehmes Phänomen unserer Gesellschaft, das mal mehr mal weniger betroffen macht und auch regelmäßig auf die politischen Agenden der Stadt, gerade vor Beginn des Winters. Der Winter in „Verdorven“ ist ein ausgesprochen kalter. Ellen schreibt zwar recht sachlich, was auf jeden Fall zu den Stärken ihres Stils gehört, lässt aber über ihre Protagonisten Gefühle wie Empathie, Wut und Leidenschaft ausdrücken. Dabei sind die Reaktionen differenziert und passen sich den jeweiligen Alter und sozialen Hintergründen an. So reagiert Claus stets mit chauvinistisch-zynischem Humor, Esra aber viel emotionaler und schließlich Wolfgang zeichnet sich durch Selbstvertrauen und Durchsetzungskraft aus.
„Verdorven“ ist wie sein Vorgänger ein spannungsreiches Buch, das sich für winterliche Abende zu Hause besonders empfiehlt. Welches bessere Kompliment kann man eigentlich einem Kriminalroman machen, als zu sagen, dass bei dessen Lektüre die Zeit wie im Flug vergeht?